TV-SKRIPTE

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Akzeptanz neuer Technologien
Fortschritt braucht Bedenkzeit
Innovationen sollen das Leben einfacher, günstiger, nachhaltiger werden lassen. Während sich die eine Hälfte von Gesellschaft und Wirtschaft gern ins Technologie-Abenteuer stürzt, schaut die andere lieber erstmal zu. Beide Seiten haben gute Gründe.
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Forderung nach einheitlichen Akku-Tests für E-Autos
Der Gesundheitspass krankt
Gebrauchtwagen mit Elektroantrieb lassen sich schwer verkaufen. Denn ihr Herzstück, der Akku, gibt Kaufinteressenten Rätsel auf. Die Branche will Durchblick liefern. Nur wie?
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Sammelverfahren im VW-Abgasskandal
Die Luft ist raus
Weil VW bei Abgaswerten betrogen hatte, erhielten rund eine Viertelmillion Kunden eine Entschädigung. Leer ausgehen hingegen tausende Mandanten, die sich der Klage des Rechtsdienstleisters „myRight“ angeschlossen haben.
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Früh übt sich...
Journalimus aus Kinderhänden
Für Journalismus begeisterte ich mich schon als Kind. Das Resultat: die Grundschulzeitung "Jugendpost"
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70 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund

Auf dem Trittbrett zum Tarifabschluss

Der Deutsche Gewerkschaftsbund wird 70 und feiert das mit einem Festakt in Berlin. Die Freude trübt, dass nicht mal jeder fünfte Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied ist. Die Gründe dafür sind vielfältig.

(21.10.2019) Wer sich von Arbeitnehmerschaft ein Bild machen möchte, erhält vor Tor 1 des Mainzer Unternehmens Schott ein ziemlich breites Angebot: Der Hersteller von Spezialglas und Glaskeramik ist einerseits ein Technologiekonzern, beschäftigt also hochausgebildete Forscher und Entwickler. In den Schmelzen und an den Produktionslinien gibt es aber auch diejenigen für Knochenjobs. Sie alle schieben sich durch das Drehkreuz des Werktors in den Feierabend. Spricht man sie darauf an, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund 70 Jahre Bestehen feiert, winken die meisten ab. „Mir geht’s gut, brauche ich nicht“, ruft der eine noch, bevor er sich auf sein Fahrrad schwingt.

Statistisch gesehen wäre der fünfte oder sechste Arbeitnehmer, der durch das Drehkreuz kommt, Mitglied in einer Gewerkschaft. Und tatsächlich: Leo Hauck ist es. Aus Überzeugung: „Es ist eine Sache der Solidarität. Die Gewerkschaft ist die Vertretung der Arbeitnehmer und jeder partizipiert daran, was die Gewerkschaft schafft. Da sollte man schon drin sein.“ Für ihn sei das zu Beginn des Arbeitslebens noch selbstverständlich gewesen.

Mitgliederzahl verfestigt bei 6 Millionen

Das sehen nicht mehr alle so: Im Jahr 1991 hatten die Gewerkschaften des DGB nahezu 12 Millionen Mitglieder. Danach ging es stetig runter. In den vergangenen Jahren verfestigte sich die Mitgliederzahl bei um die sechs Millionen.

Die Gründe für diese Halbierung sind zum Teil hausgemacht. So genehmigten Gewerkschafter als Aufsichtsräte bei beispielsweise Volkswagen, Telekom oder Deutsche Bank auch die Gehälter von Konzernmanagern. Dass die in Millionenhöhe erfolgten, stieß an der Basis oftmals auf wenig Verständnis. Oder: Gewerkschaftsgrößen wechselten auf die Arbeitgeberseite in eine Konzernspitze, wie der ehemalige Transnet-Gewerkschaftsführer Norbert Hansen zur Deutschen Bahn.

Mithaftung für Entscheidungen der Politik

Solche Geschichten kratzen am Ruf. Vor allem aber tat das Hartz IV. Im „Bündnis für Arbeit“ wollten Anfang der 2000er-Jahre Bundesregierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften der Arbeitslosigkeit begegnen. Durch Abbau von Überstunden, eine Qualifizierungsoffensive oder die Verbesserung von Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer.

Doch das Bündnis scheiterte. Der damalige Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt machte dafür die Gewerkschaften verantwortlich. Diese hätten ihre Blockadehaltung in wesentlichen Punkten nicht verändert. Kanzler Schröder setzte die Reformen als Agenda 2010 inklusive Hartz IV im Alleingang durch. Der DGB, zum Zuschauen verbannt, ging für viele enttäuschte Arbeitnehmer als Verlierer vom Platz.

Wandel der Arbeitswelt

Dazu kam eine veränderte Lebenswelt der Arbeitnehmer: Sie wollen mehr Zeit für die Familie oder Freiraum zur Selbstverwirklichung. Vor Tor 1 in Mainz sagt beispielsweise Anja Horvath: „Die Gewerkschaften sollten die Interessen der Arbeitnehmer besser vertreten. Familie und Beruf, Homeoffice, flexiblere Arbeitszeitmodelle sind Themen, die mich interessieren. Es gibt da so tolle, innovative Modelle!“ Die Denke der Gewerkschaften hingegen finde sie „ein bisschen veraltet.“

Arbeitszeitmodelle sind ein gutes Beispiel dafür, dass die Gewerkschaften heute mehr als früher um die Gunst der Arbeitnehmer ringen müssen.
„Teilzeitbeschäftige haben häufig ein geringeres Interesse, sich gewerkschaftlich zu organisieren, und sind auch schwieriger für die Gewerkschafter zu erreichen“, erklärt Claus Schnabel, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Dazu komme ein Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt: „Arbeitnehmer in kleinen Dienstleistungsbetrieben beispielsweise sind schwieriger zu erreichen als Arbeiter im Bergbau oder einem großen Industriebetrieb. Zum einen weniger Tradition, aber auch örtlich verstreuter.“

Neue Rolle der Arbeitgeber

Stichwort Tradition: Mit ihr brechen auch viele Arbeitgeber, um rare Fachkräfte zu binden, indem sie von sich aus mit Anreizen wie Arbeitszeitmodellen oder Sonderzahlungen werben – Anreize, die sich früher Gewerkschaften als Forderungen auf die Protestplakate schrieben.

Grundsätzlich sei die Gesellschaft individualistischer und die Distanz zu den Gewerkschaften größer geworden, sagt Schnabel. „Da haben die Gewerkschaften ein ähnliches Problem wie die Kirchen und die Parteien. Der einzelne ist weniger interessiert, Teil eines Kollektivs, eines großen Ganzen zu sein.“

Wie sollen die Gewerkschaften gegensteuern? Schnabel hat kein Patentrezept, aber er ist davon überzeugt, dass die Gewerkschaften stärker und konkreter auf die Arbeitnehmer zugehen müssten. „Mit Großkundgebungen zum 1. Mai und allgemeinen Klassenkampf-Parolen erreicht man die Arbeitnehmer nicht mehr.“

Die IG Metall hat es laut Schnabel vorgemacht, wie es gehen könnte, der Abwärtsspirale zu entkommen. „Sie hat sich ein Stück weit neu erfunden als eine Art Mitmachgewerkschaft. Sie befragt Mitglieder nach ihren Interessen und bindet Wünsche konkret in die Tarifverträge ein.“

Das Problem der Trittbrettfahrer

Von den Errungenschaften, die Gewerkschaften aushandeln, profitieren alle Arbeitnehmer - schließlich werden sie automatisch Bestandteil von Arbeitsverträgen. Vor dem Mainzer Werkstor drückt Brigitte Kraus-Heinz das so aus: „Vieles ist selbstverständlich geworden. Da ist kein Kampf mehr notwendig. Das ist das Problem.“

Es ist das Problem des Trittbrettfahrens. Vor dessen Risiken warnt das Institut der Deutschen Wirtschaft: „Wenn nun die Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden an einem Tisch sitzen, ist ihre Position geschwächt, schließlich sprechen sie nur für eine Minderheit der Mitarbeiter. Die rückläufige Entwicklung der Mitgliederzahlen schadet also allen Arbeitnehmern, die noch nach Tarif bezahlt werden.“


Gesichtserkennung am Bahnhof

Vom Flop der Foto-Fahndung

An einem Berliner Bahnhof erproben Sicherheitsbehörden derzeit automatische Gesichtserkennung bei Fahrgästen. Das Projekt soll Terror verhindern helfen. Vor gut zehn Jahren lief ein gleiches Projekt in Mainz - und floppte.

(24.08.2017) "Jemandem etwas an der Nasenspitze ansehen" oder "Die Augen sind die Fenster zur Seele": Der Volksmund scheint schon lange zu wissen, was das Gesicht darüber verrät, wes Geistes Kind das Gehirn dahinter ist. Bundesinnenministerium, Bundespolizei und Bundeskriminalamt (BKA) wollen Gesichter zumindest mit Datensätzen abgleichen können. Die Sicherheitsbehörden begründen ihr Vorhaben auch damit, dass mögliche Gefährder vor einem Anschlag erkannt und die Tat vereitelt werden könnte.


Im Berliner Bahnhof Südkreuz läuft seit Anfang August dazu ein Test mit 300 Freiwilligen. Gesichtserkennung dank Überwachungskamera und Computer. Bundesinnenminister Thomas de Maizière begutachtet das Verfahren heute.


Rolltreppe im Fokus


Vielleicht greift er dabei auch auf Erfahrungen aus Mainz zurück. Dort probierte das Bundeskriminalamt bereits 2006 Gesichtserkennung am Hauptbahnhof der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt aus. Drei Unternehmen stellten ihre Systeme zur biometrischen Gesichtserkennung zur Verfügung.


Zur "Spielwiese" der sieben Kameraobjektive wurde die Rolltreppe der Bahnsteigbrücke. Wer sie benutzte, dessen Augenabstand, Form der Wangenknochen oder Kinnkrümmung wurden automatisch mit hinterlegten Fotos verglichen. "Foto-Fahndung" hieß das Projekt.


Wie auch jetzt waren damals nach den geplanten Kofferbombenattentaten von Dortmund und Koblenz Rufe nach mehr Videoüberwachung an Flughäfen und Bahnhöfen laut geworden. Und damit auch der Ruf nach dem Ausreizen technischer Möglichkeiten, Gefährder und Gesuchte frühzeitig ausfindig zu machen.


Wenige Treffer


Doch das Mainzer Foto-Schießen floppte: zu geringe Trefferquote. Nach mehreren Monaten des Scannens und Vergleichens kam der damalige BKA-Präsident Jörg Ziercke im Juli 2007 zum Schluss: "Das Ziel, eine Gefahr zu verhindern, erreiche ich damit nicht."


Nicht mal zwei Drittel der 200 Versuchsteilnehmer, bei denen das System hätte Alarm schlagen müssen, wurden vom System erkannt. Bei schlechtem Licht - wie bei Dämmerung oder nachts - konnten sogar neun von zehn Probanden unbehelligt die Rolltreppe hinunterfahren.
Sonnenbrillen störten Software


Zum Scheitern des Feldversuchs trugen neben den Lichtverhältnissen aber auch die Motive bei: Die täglich 22.000 Rolltreppenfahrer schauten nicht immer frontal in die Kameras, trugen Mütze oder Sonnenbrille und verdeckten so Teile des Gesichts. Wie sich der Mensch eben gibt im öffentlichen Raum. Humane Verhaltensweisen ließen technoide Software scheitern.


Das alles entspreche nicht polizeilichen Maßstäben, konstatierte schließlich Ziercke. "Eine solche Erkennungsrate reicht nicht aus, um Festnahmen verantwortlich zu begründen." Er werde deshalb dem Bundesinnenminister - damals Wolfgang Schäuble - die Foto-Fahndung nicht empfehlen.


Die 2006/2007 in Mainz verwendete Software steckte noch in den "Kinderschuhen". Wer eine Sonnenbrille trug oder wessen Hut etwas tiefer ins Gesicht ragte, blieb unerkannt.


Technik weiter, Risiken bleiben


Nun sind zehn Jahre vergangen. Die Technik hat sich entwickelt, Kameras sind hochauflösender, Rechner schneller. Doch die Risiken sind geblieben. Der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte, Peter Schaar, wurde nicht müde, die willenlose Filmerei zu kritisieren - selbst wenn technische Mängel künftig verringert werden könnten: "Besonders kritisch sind Falscherkennungen, die bei einem echten Einsatz unverdächtige Bürger zunächst einem Anfangsverdacht aussetzen, Rechtfertigungszwänge auslösen und weitere Überprüfungen notwendig machen würden." Der Einsatz dürfe auch keinesfalls zu einer Totalüberwachung führen. "So muss sichergestellt werden, dass Überwachungskameras nicht mit digitalisierten Passfotos verknüpft werden, die im Pass- und Personalausweisregister gespeichert werden."


Gesichtserkennung versus Grundrecht


Nun, zum Start des Tests am Berliner Südkreuz, klingen die Mahnungen genau wie damals: "Wenn massenhaft Gesichter von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern an Bahnhöfen gescannt werden, dann greift der Staat schwerwiegend in Grundrechte ein", kritisiert der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg.


Berlins Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk verweist auf das "enorme Missbrauchsrisiko". Das verfassungsrechtlich verbriefte Recht, sich unbeobachtet und anonym in der Öffentlichkeit zu bewegen, drohe ausgehöhlt zu werden.


Foto-Fahndung und die Frage der Haltung


Kritik von Datenschützern, aber auch die Unzulänglichkeiten des Mainzer Feldversuchs zeigen: Gesichtserkennung im öffentlichen Raum hat noch viel zu lernen. Irgendwann dürften sich Kameraobjektiv und Erkennungssoftware Fachleuten zufolge die nächsten Lernfelder suchen. Denn, wie der britische Schauspieler Alec Guiness gesagt haben soll: "Gang und Haltung verraten mehr als das Gesicht."


http://www.tagesschau.de/inland/gesichtserkennung-127.html


Tag der Pressefreiheit

Grundrecht unter Druck

Beschimpfungen, Verleumdungen oder Gewaltandrohungen schaden der Pressefreiheit in Deutschland. Die Journalisten kämpfen aber auch gegen wirtschaftlichen Druck. Helfen kann dabei nur ihr größter Profiteur: die Gesellschaft.

(03.05.2017) Menschenmasse, Menschenmenge oder Menschengrüppchen? Diese Frage können Fotos und Filme klären. Doch als ein Kameramann filmen will, wie viele Menschen die Veranstaltung einer rechtskonservativen Mainzer Burschenschaft besuchen, wird er von einem unscheinbar wirkenden Mann so kräftig weggestoßen, dass sein Arbeitsgerät Schaden nimmt. Und auch die Pressefreiheit.

Beschimpfung wegen Berichterstattung

Das ereignete sich zwar vor anderthalb Jahren – es war der Herbst nach der Grenzöffnung für Flüchtlinge, die Zahl der neuen Asylsuchenden ist seitdem wieder gesunken, das Mikrophon ließ sich ersetzen. Doch Vorfälle wie der beschriebene blieben: In Erfurt wird im Januar bei Dreharbeiten ein MDR-Journalist rassistisch beleidigt, attackiert und gejagt; in Göppingen wird Anfang Februar das Küchenfenster eines Journalisten eingeworfen; ebenfalls im Februar wird einem SWR-Autoren in Dresden ein Ellenbogen in die Seite gerammt – alles, weil sie berichten wollten.

Bericht erstatten auch der Grund für Beschimpfungen, Verleumdungen bis hin zu Gewaltandrohungen gegen Journalisten auf ihren Profilseiten in sozialen Netzwerken. Auch der drangsalierte Kamermann von Mainz möchte deshalb nicht seinen Namen hier stehen sehen. Obwohl er doch für eine gute Sache arbeitete: Fernsehzuschauer sollten sich dank seiner Arbeit ein eigenes Bild machen können.

42 Prozent deutscher Journalisten fühlen sich angegriffen

Laut einer Studie des Bielefelder Konfliktforschers Prof. Andreas Zick sagen zwei Drittel befragter Journalisten, dass hasserfüllte Angriffe in den vergangenen 12 Monaten deutlich gestiegen seien. 42 Prozent der Befragten seien im vergangenen Jahr selbst von Angriffen betroffen gewesen, ein Viertel mehrmalig bis regelmäßig. Die Folge: Journalisten können aufgrund der Belastung ihre Aufgabe nicht mehr uneingeschränkt erfüllen. Die Pressefreiheit: beschädigt.

Profitstreben auf Kosten der Pressefreiheit

Die Gründe dafür sind laut Fachleuten vielfältig und vielschichtig. Den umkämpften Markt sieht beispielsweise Gregor Daschmann, Publizistik-Professor an der Universität Mainz: „Die Zeit, die der durchschnittliche Bürger mit Mediennutzung verbringt, ist auf zehn Stunden am Tag gestiegen und stagniert dort.“ Doch das Mediensystem weite sich, besonders durch das Internet, immer mehr aus und ständig komme neues Angebot hinzu. „Der Publikumskuchen bleibt also gleich groß, aber immer mehr Anbieter müssen ihn sich teilen." Die Folge: Im Kampf um die Aufmerksamkeit werde der Tonfall dramatischer und emotionaler. „Mit reißerischen Schlagzeilen versucht man, den Leser, Hörer oder Zuschauer zu gewinnen und ihn von den bewährten klassischen Massenmedien hin zu neuen Angeboten zu bewegen.“

"Pluralismus der Meinungsbildung"

Viele Nutzer machen dann „alternative Informationsquellen“ oder auch Instagram, Facebook und Youtube mit ihren nicht geprüften oder gar bewusst falschen Inhalten zur Hauptinformationsquelle. Oftmals bestätige das soziale Umfeld die Nutzer in ihrer Medienwahl. Und schließlich stellten manche Nutzer mit Schlagwörtern wie „Lügenpresse“ die Instanz und Legitimation des Journalismus generell infrage, erklärt Daschmann. „Ein demokratisches System funktioniert aber ohne eine verbriefte und auch gelebte Pressefreiheit nicht. Erst die Pressefreiheit ermöglicht den Pluralismus der Meinungsbildung.“

Pressefreiheit unter Druck der Meinungsfreiheit?

Der gleichen Strategie – Journalismus unglaubwürdig wirken zu lassen – bedient sich auch mancher in der Politik. Dazu abgenickte oder gar vorgefertigte Interviews, Verbot eigener Dreharbeiten oder Drehverbote auf Parteiveranstaltungen, Schweigen trotz Auskunftspflicht oder nichtssagende, Verwirrung stiftende Statements. Statt Marktanteilen geht es hierbei um Wählerstimmen. „Es ist erschreckend, dass sich die Sprache des Populismus immer häufiger gegen das Grundrecht der Pressefreiheit richtet“, sagt der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalistenverbands, Frank Überall. Populistischen Tendenzen müsse „mit aller Entschiedenheit der Demokraten“ entgegengetreten werden. „Wenn immer mehr Politiker die Sprache des Populismus benutzen, müssen bei uns Journalisten alle Alarmsignale schrillen.“ Eine direkte Folge dieser Entwicklung sei, dass immer mehr Menschen Meinung höher gewichteten als Information. Damit gerate der Journalismus mitten in der Gesellschaft unter Druck.

Pressefreiheit braucht Unterstützer

„Die ganze Gesellschaft ist aufgerufen, gegen diejenigen aktiv zu werden, die zum Kampf gegen demokratische Grundwerte rüsten“, appelliert Überall zum heutigen Tag der Pressefreiheit. Zu diesem Aktiv-werden gehört wohl auch, Journalismus wertzuschätzen: Schnelle, aber unausgegorene Berichte werden noch zu oft mit Klicks und damit Geld belohnt. So sinkt langfristig die Qualität, dann das Vertrauen der Leser, Hörer oder Zuschauer in den Journalismus, infolgedessen die Einnahmen, dann seine Unabhängigkeit. Und damit auch die Pressefreiheit.

Der Kameramann von Mainz hätte sich übrigens auch über Unterstützung anderer Art gefreut: Als er attackiert wurde, sprangen ihm zwar Kollegen zur Seite und Polizisten nahmen eine Anzeige auf. „Weiterverfolgt wurde das aber nicht. Die Polizei meldete sich nie wieder bei mir. Auf dem Schaden blieb ich sitzen.“

http://www.tagesschau.de/ausland/pressefreiheit-111.html



Kisch, kisch! Kusch, Kusch? Und eine kleine Killerbestie?

Prozess gegen leinenfaule Hundehalterin führte zur Verurteilung

(18.01.2007) jaso. Ein ungewöhnliches Bild bot sich gestern Vormittag in Saal 312 des Amtsgerichts: Auf der Anklagebank nahm eine 30-jährige Frau Platz. Und ein Hund. Dem ermahnenden Hinweis des Richters Oliver Weik, Hunde hätten aus dem Gerichtsgebäude draußen zu bleiben, entgegnete die Angeklagte, sie wolle nur die Unschuldigkeit ihres Tieres untermauern. „Also gut, er wird als Augenscheinsobjekt aufgenommen,“ erkannte Weik an und eröffnete die Verhandlung. Die Anklage: Der Hund hatte im Juli vorigen Jahres einen vierjährigen Jungen auf einem Spielplatz ins Knie gebissen. Zum Tatzeitpunkt verbrachte die angeklagte Hundebesitzerin Einkaufstüten in die gemeinschaftlich Wohnung. Als das Kind schrie, habe auch die Hundebesitzerin geschrieen: „Halt’s Maul!“ Die Angeklagte verneinte das und erklärte sich die Attacke ihres Hundes vielmehr als Reaktion auf eine Abwehrbewegung einer der Mütter, die die Kinder auf dem Spielplatz betreut hatten.

Nun war der Hund nicht angeleint, auf dem Spielplatz hatte er nach Gesetz nichts zu suchen und kleine Kinder beißen ist auch nicht fein. Jedoch handelt es sich bei dem befellten Täter um keinen meterhohen Kampfhund, sondern um einen Chihuahua. Jede gewöhnliche Hauskatze ist größer als er; der Aktenordner zur Verhandlung würde ihn im Umfallen erschlagen; überraschend auch, dass das Mäulchen des Hundes, das von seinen Ausmaßen mit Daumen und Zeigefinger eines Mannes zu vergleichen ist und dessen Zähne - gerademal ein, zwei Millimeter groß - dem Kind eine drei Millimeter große Bisswunde zufügten. Aber vielleicht sah die Minibestie gerade in diesem Moment, als der kleine Junge angsterfüllt vor ihm davonlief, die nicht mehr wiederkehrende Chance, aus dem Schatten von Doggen und Schäferhunden herauszutreten?

Godzilla (Name geändert) verfolgte die Verhandlung gelassen auf dem Schoß seiner Herrin - auch bei der Gegenüberstellung mit dem Opfer, dass sich seit der Bissattacke in therapeutischer Behandlung befindet: Als der türkische Junge auf die Frage, welcher Hund ihn gebissen habe, stillschweigend mit dem Finger auf die Anklagebank zeigte, gähnte der Scheinheilige herzhaft. Weitaus weniger gelassen die Angeklagte: Mit mehreren Tränenausbrüchen verlieh sie ihren Unschuldigkeitsbekundungen Nachdruck, auch als mehrere Zeugenaussagen die Anklage bestätigten. „Er hat noch nie ohne Grund gebissen. Erst als ihn eine der Frauen mit ,Kisch! Kisch!’ verscheuchen wollte,“ so die sich selbst verteidigende Angeklagte.

„Kisch, kisch?“ Richter und Staatsanwalt Stefan Braun wurden hellhörig. Die türkische Übersetzerin wurde gefragt, was das bedeute. „Das ist Türkisch für ‚Kusch, Kusch’“, erklärte diese. Woher sollte die aus Lettland stammende Angeklagte wissen, dass auf Türkisch ein Hund anders verscheucht würde als auf Deutsch? Waren die Zeugenaussagen wirklich nur ein Angriff der Nachbarn, wie es die Angeklagte erklärte? War das die Wende in diesem Prozess? Schließlich werde ihr 13-jähriger Sohn ständig von den Kindern der Familie in den Bauch geschlagen. Drei Anzeigen habe sie deshalb schon gestellt. Das würde auch erklären, warum sie sich bei den Eltern des Opfers nicht entschuldigt habe.

Richter Oliver Weik ließ dies nicht gelten: „Sie haben den Biss und die Vorgeschichte dazu nicht mitbekommen. Die von Ihnen geschilderte Abwehrreaktion ist erst nach dem Biss erfolgt. Die Kinder haben durch ihr Weglaufen den Beutereiz des Hundes provoziert. Aber das ist eine typische Reaktion.“ Damit habe die Angeklagte rechnen müssen und trage daher die Konsequenzen: 25 Tagessätzen zu zehn Euro."



In der Pubertät hängengeblieben

Oliver Pochers Zwei-Stunden-Programm blieb nicht jugendfrei

(15.12.2006) jaso. Hängebusen: Für viele ein unangenehmer Beweis, dass Erdanziehungskraft, Bindegewebe und der Zahn der Zeit korrelieren. Ein Umstand, der von der betroffenen Randgruppe nur äußerst ungerne thematisiert wird. Prekär. Und damit genau das richtige für „Comedian“ Oliver Pocher: „Hängebusen: super als Schal!“ Witze über weitere Randgruppen wie „Türken, Behinderte und Italiener“ folgten rasch am Mittwochabend im CongressCentrum.

„It's my life - Aus dem Leben eines B-Promis“ hieß das Programm scheinheilig. Tatsächlich ging es um Sex. Oder um Randgruppen. Oder eben um beides. Denn Pocher ist scheinbar in der Pubertät hängengeblieben. Mit dieser persönlichen Entwicklungsstufe geht es einher, dass der Betroffene den Umgang mit Sexualität spielerisch erlernt. Er redet dann auch einerseits viel darüber und möchte aber auch viel darüber hören. Pocher nahm sich diesen wechselseitigen Bedürfnissen ergiebig an, in dem er - gemäß Ankündigung - seine eigenen Lebens- und Liebeserfahrungen dem Publikum schilderte: „Meinen ersten Sex - ok, sagen wir besser - mein erstes Petting hatte ich bei der Musterung.“ Dieses eindringliche Erlebnis habe sich auf sein weiteres Sexualverhalten ausgewirkt - etwa während seines Zivildienstes im Altenheim: „Die waren nett dort. Sie konnten nicht weglaufen und sich später an nichts erinnern. Wenn doch, glaubte ihnen niemand. Oder ich gab mich als Florian Silbereisen aus.“ Pocher auf der Stadthallenbühne: Klassenclown auf dem Lehrerpult. Alter? 28 Jahre!

Unterschichten-Fernseh-Humor also. Oder Kunst? Es ist in Mode gekommen, nicht mehr dröge Politik oder düsteres Weltgeschehen in Kabarett und Comedy zu thematisieren, sondern das, was auf mehr Interesse stößt: das Fernsehprogramm. Dessen eingedenk kam Pocher auch ganz schnell weg vom eigenen zum Leben der anderen: Popstargrößen wurden veräppelt, Sportler imitiert, Nachmittags-Talkshow nachgespielt oder die Lokalzeitung analysiert: „Vier wertvolle Radkappen gestohlen - Wie spannend! Pforzheim: Da geht was!“

Aber sobald Pocher in seinem zweistündigen Soloprogramm das Themengebiet Sex verließ, wurde es eigentlich richtig lustig: Auf dem Boden krauchend spielte er Zeitlupen-Aufnahmen von gefoulten, italienischen WM-Fußballern nach; er bewies, dass die Mainzelmännchen auf Grund ihres Habitus und die Maus aus der gleichnamigen Kindersendung ihrer klackernden Augen wegen kokainabhängig seien und bald den 1. FC Köln trainieren müssten. Die 1 200 Zuschauer lachten. Die Kunst, guten Humor zu transportieren, beherrscht Pocher also.

Wirklich kunstfertig auch Pochers Schlagfertigkeit, die ihn zum einen zwar zum Außenreporter bei der ZDF-Sendung Wetten-Dass machte, ihm andererseits aber auch 6 000 Euro Schmerzensgeldforderung einbrachte, weil er dabei eine Zuschauerin beleidigt hatte. Und der Blondschopf, der aussieht wie Schwiegermuttis Traummann, schlug wieder schamlos zu: Mikrofon geschnappt, ins Publikum. Wer ihm im Einzelgespräch Paroli bieten konnte, fand die Anerkennung des Publikums. Einen jungen Versicherungs-Azubi trieb der gelernte Versicherungskaufmann Pocher mit einem minutenlangen Gespräch über Fachtermini zur Verzweiflung. Zu spät gekommene junge Damen wurden sofort frech interviewt und ins Hotel eingeladen. Warum er seinen Autogrammwunsch ausschlage, rief ein Fan aus dem Publikum. Pocher arrogant: „Schau Dich doch mal an!“ Publikumsbeschimpfung ist Kunst, wie schon Peter Handke zeigte."


Weltkindertag:

209 Euro für ein Kind - das ist ein Kunststück

(20.09.2006) reuters - Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat die Kommunen auf einer Pressekonferenz zum Weltkindertag am Mittwoch in Berlin kritisiert. “Es kann dann nicht sein, dass jetzt einige Kommunen prompt die Kindergartenbeiträge raufsetzen mit dem Argument, sie wären besser von der Steuer absetzbar,” sagte von der Leyen.

Zu Beginn des Jahres hatte die Bundesregierung eine bessere steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten beschlossen. Um Kinderarmut in Deutschland abzubauen, müsse ein Zugang zu Kindertagesstätten auch einkommensschwachen Familien und Alleinerziehenden ermöglicht werden, sagte von der Leyen. Das verhindere Kinderarmut. “Es ist auffallend, dass alleinerziehende Mütter mit Kindern unter sechs Jahren in den neuen Bundesländern ein geringeres Armutsrisiko haben als in den alten Bundesländern, weil es dort selbstverständlicher und unkomplizierter ist, Arbeit und Familie Hand in Hand gehen zu lassen.”

Unterstützung erhält von der Leyen durch den Kinderschutzbund. Dessen Präsident Heinz Hilgers erklärte: “Wenn die Eltern arbeitslos sind, dann sagt dir die Stadt: Du brauchst ja gar keinen Ganztagsplatz. Das ist genau falsch. Die Kinder brauchen einen Ganztagsplatz der Kinder wegen, und nicht, weil die Eltern beide arbeiten gehen.”

Der Kinderschutzbund geht von bundesweit 2,5 Millionen Kindern in Armut aus - also jedes sechste Kind. Gegenüber 2004 hat sich im Jahr 2006 die Zahl der Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben, somit verdoppelt. Gründe dafür lägen in den Änderungen der Arbeitslosenunterstützung und der Zunahme von Langzeitarbeitslosigkeit. “Und dann müssen die Kinder von 209 Euro im Monat leben. Das ist in Deutschland wenig, wenn Sie damit Kleidung, Ernährung, Schulbedarf, alles sicherstellen wollen. Das ist ein Kunststück.”

Auf die Kinderarmut in Deutschland macht der Kinderschutzbund seit Mittwoch mit der bundesweiten Aktion 2,5 Millionen Flaggen gegen Kinderarmut aufmerksam. An 106 Standorten werden blaue Fähnchen in den Boden gesteckt. Jedes steht für ein Kind in Armut. Am Mittwochvormittag startete die Aktion auf der Spreebogenwiese in unmittelbarer Nähe zum Bundeskanzleramt. Dort steckten 200.000 Fähnchen im Boden und verwandelten den grünen Rasen in ein blaues Papier-Meer.

Kinder und Jugendliche haben nach Angaben des Kinderschutzbundes in Deutschland ein hohes Armutsrisiko. 15 Prozent der Kinder unter 15 Jahren und knapp 20 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren seien betroffen. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks wächst die Armut von Kindern in Deutschland stärker als in den meisten anderen Industrieländern.



Die ersten drei Rabbiner aus Deutschland seit der Nazi-Zeit

(14.09.2006) reuters - Nach der akademischen Graduation am Mittwoch erhielten die ersten drei Absolventen des Rabbiner-Seminars des Abraham-Geiger-Kollegs am Donnerstag in der Neuen Synagoge Dresden ihre Ordination. Damit wurden die seit 1940 ersten Rabbiner in Deutschland zum geistlichen Amt gesegnet, geordnet und in ihre zukünftigen Gemeinden nach München, Oldenburg und Kapstadt gesandt.

Für den Rektor des Kollegs, Walter Homolka, ist die Entsendung der Rabbiner aus Deutschland ein Zeichen für die Welt: “Versammelt haben sich Jüdinnen und Juden aus aller Welt, um nach über 60 Jahren wieder Rabbiner in Deutschland zu ordinieren. Geschwisterlich begleitet werden wir in dieser Freude durch Muslime und Christen.”
Walter Jacob, Präsident des Kollegs, betonte die historische Bedeutung der Ordinationsfeier als “neuen Anfang”: “Für mich auch ist das was persönliches: Mein Vater, Rabbiner Ernst Jacob, meine Mutter und mein Bruder – wir dachten nie daran, dass wieder ein neues, deutsches, jüdisches Leben entstehen würde.” Die Ordination entspricht der Priesterweihe der christlichen Kirchen. Danach treten die drei Rabbiner ihre neuen Stellen an: Der gebürtige Tscheche Tomáš Kuc(era in München, Daniel Alter in Oldenburg und der Südafrikaner Malcolm Matitiani in Kapstadt.

In Europa besteht ein großer Bedarf an Rabbinern. Bis zur Gründung des Abraham-Geiger-Kollegs mussten Anwärter für das Rabbinerstudium in die USA oder nach England gehen und dort oftmals 150.000 Dollar in das Studium investieren. Damit sich das amortisiere, nahmen Absolventen meist gut bezahlte Gemeindeaufgabe in den USA an statt in kleine deutsche Gemeinden zurückzukehren.
Das 1999 gegründete Abraham-Geiger-Kolleg an der Universität Potsdam versteht sich als Nachfolgeeinrichtung der 1942 durch die Nationalsozialisten zerstörten Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.

Mit derzeit rund einem Dutzend Studenten orientiert es sich organisatorisch an der Ausbildung für das christlich-geistliche Amt in den deutschsprachigen Ländern. Die akademische Ausbildung absolvieren die künftigen Rabbiner an der Universität Potsdam. Fünf Jahre dauert die Ausbildung. Der Magisterstudiengang "Jüdische Studien" an der Universität reicht von Jüdischen Texten aus Bibel, Talmud und Midrach (Auslegung religiöser Texte), Religionsphilosophie und Geistesgeschichte über Soziologie der jüdischen Gemeinden und praktische Liturgie bis zu synagogaler Musik und Seelsorge. Besonders aufwendig sind die Sprachen Hebräisch, Aramäisch und - als Wahlfach - Jiddisch. Fester Bestandteil der Ausbildung ist ein Jahresaufenthalt in Israel mit Studien an den dortigen Universitäten. Außerdem arbeiten die Studenten an ein bis zwei Wochenenden pro Monat in jüdischen Gemeinden.

Bislang lebte das Kolleg vor allem von Spenden aus den USA. Die künftige Finanzierung des Rabbinerseminars wird durch ein Zusammenwirken von Bund, Zentralrat der Juden und Leo Baeck Foundation gesichert. Außerdem sollen die Bundesländer jährlich 150000 Euro beisteuern. Darüber wird aber noch verhandelt.
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Ein Tag im Leben eines Mitglieds im Bundestags (2)

Trotz Abstimmungsstress und Arbeit mit "Franz" Wertefreiheit erhalten

Der Arbeitsalltag einer Bundestagsabgeordneten verlangt nicht nur Konzantration und Zeitmanagement, sondern auch Fitness

(01.07.2006) 1999 führte die Labour-Regierung den Mindestlohn in Großbritannien ein. Er liegt momentan bei 7,36 Euro pro Stunde. Eine wirtschaftlich kontraproduktive Wirkung blieb entgegen vorher geäußerter Befürchtungen aus, steht in dem Text, den Katja Mast morgens 7 Uhr 45 im Englisch-Kurs des Bundestags fast fließend übersetzt. Als Mitglied des Bundestages und des Ausschusses für Arbeit und Soziales trifft die 35-jährige SPD-Politikerin bald Vertreter der Labour-Partei, um sich mit ihnen über „minimum wage“ auszutauschen – auf Englisch. „Mindestlöhne können im geöffneten Europa eine Lohnschlacht verhindern,“ erklärt sie der englischen Lehrerin in deren Muttersprache.


Katja Mast erklärt Bundestag (C) jpp 2006
Mittendrin in der Politik angekommen ist Katja Mast. Für Pforzheim und den Enzkreis in Berlin setzt sie sich ein.

Um Geld geht es eine Stunde später auch im Plenarsaal. Angela Merkel verteidigt ihren Haushalt – durch Klatschen unterstützt von Katja Mast, die immer die Zeit im Blick hat: Ein Fan hat sich angekündigt. 700 Kilometer ist Hubert Augenstein mit dem Fahrrad nach Berlin gefahren. Auf dem Dietlinger Straßenfest hatte er versprochen: „Wenn Sie es in den Bundestag schaffen, komme ich Sie mit dem Rad besuchen.“ Jetzt, nach drei Tagen Fahrt, ist der 72-jährige da und erhält eine persönliche Hausführung.

Im Foyer des SPD-Fraktionssaals hängt ein Bildnis Fritz Erlers. „Den habe ich beerbt,“ sagt Mast und zeigt stolz auf das Schwarzweißfoto. Im Saal selbst sitzt sie bei Sitzungen gleich in der ersten Reihe. Sie zeigt auf die Vorstandsbank: „Da sitzt der Franz.“ Das politische Verhältnis beider ist tatsächlich näher als die zwei Meter über den Vorstandstisch: Als die Familienkasse mit dem Umzug nach Nagold ihre Pforzheimer Sprechstunde strich, schickte Mast einen Brief an Müntefering. Der veranlasste ein Pilotprojekt, das an einem Vormittag Sprechstunden in Pforzheim ermöglichte. „Die Resonanz ist sehr gut, obwohl es kaum bekannt gemacht wurde.“ Ein weiterer Kontakt der beiden Genossen war „Du, Franz, wie wäre es mit einem Gütesiegel ‚50+‘ für Unternehmen, die über 50-jährige anstellen?“ Franz war angetan.


Katja Mast erklärt Bundestag (C) jpp 2006

Ausnahmsweise Zaungast: Katja Mast erklärt die Sitzordnung im Bundestag. Die Bundestagsabgeordnete sitzt diese Legislaturperiode zum ersten Mal für Pforzheim und den Enzkreis in Berlin.

Es geht weiter in den Süd-Ost-Turm des Reichstagsgebäudes. SPD-Territorium. An den Wänden frühere Wahlplakate. Friedrich Eberts Plakat steht am Boden. Trotzdem erfährt es Beachtung: „Es hat mich echt umgehauen, dass ich am gleichen Tag wie er Geburtstag habe,“ lacht Mast. Es geht hinaus auf die Zwischenetage. Weil die Sitzung unten noch andauert, verwehren Rollos die Sicht durch den Innenkegel der Reichstagskuppel. Da ist nur ein dünner Spalt. Mast linst kniend hindurch und erklärt die Sitzordnung. Zweimal hat sie dort unten schon eine Rede gehalten. „Das ist viel für einen Neuling“. Ihre Gäste sind begeistert. Nur eine Stunde gewährt ihnen der Terminplan.

Gegen 12 Uhr geht Katja Mast in die Kantine des Paul-Löbe-Hauses. Während draußen Spreeschiffe vorbei tuckern - mit Touristen, die hoffen, durch die Scheiben Politprominenz zu erkennen - zerschnibbelt die leidenschaftliche Köchin Mast ihre Curry-Wurst. „Die hat mich gestern schon angemacht.“ Zeit zum Reden. Große Koalition. Wahlniederlage im Ländle. Die Arbeit im Ausschuss bei rund 5 Millionen Arbeitslosen: „Ja, ich verwalte Arbeitslosigkeit. Wenn ich die Hoffnung verlieren könnte - ich hätte mich nicht für die Politik entschieden. Aber ich muss auch Fehlinformation gegenarbeiten. Etwa wird erwogen: Wer dreimal ein Angebot ablehnt, kann, ich betone: kann sein Geld gestrichen bekommen. Das liegt im Ermessen des Beraters. Aber wie soll eine Arbeitsagentur bei der derzeitigen Lage drei Angebote im Jahr machen?“

Die SPD hatte für den Wahlkreis 280 eine wirtschaftserfahrene Kennerin des SPD-Klientels gesucht. Und in Katja Mast gefunden: Sie hielt sich mal mit Bafög oder Sozialhilfe über Wasser, „nahm jeden Job an – auch Putzen“, arbeitete sich hoch zur Personalstrategin der Bahn. Dann der Wechsel in die Politik. „Meine persönliche Wertefreiheit finde ich nur in der Politik.“ Fraktionszwang? „Beim Kongo-Einsatz habe ich lange an mir gearbeitet. Ich habe gegen den Abriss des Palasts der Republik gestimmt.“


Nahles, Heil, Mast (C) jpp 2006
Kurz vor der namentlichen Abstimmung: Andrea Nahles, Hubertus Heil und Katja Mast spielen mit ihren Stimmkarten.

Eine SMS beendet das Gespräch: Eine namentliche Abstimmung wurde vorverlegt. Auf dem Weg trifft Mast ihre Parteigenossen Andrea Nahles und Hubertus Heil. Man schäkert, spielt mit den hellblauen Stimmkarten. Abstimmung. Dann geht es zu den „Youngsters“, den unter-40-jährigen SPD-Abgeordneten. Hier wird Politik gemacht „unter Drei“, also unter Ausschluss jedweder Öffentlichkeit. Man spekuliert über eine mögliche „Jamaika-Kiste“, erwägt hie und da den „Schalter umzulegen“, wenn man unter den „Alten“ Mitstreiter fände. Junge Ideen werden geäußert – eine knappe Stunde lang.

Danach macht sich Mast auf den Weg in ihr Büro. Im Haus „UdL 50“ gelegen, ist es im Vergleich zu anderen weit vom Plenum weg. Dafür sitzt Mast mit Schröder auf einem Stockwerk und mit Schily Wand an Wand. Ihr Büro verwaltet Christiane Gregor. Sie arbeitete schon vorher im Bundestag, das macht ihre Aussage gewichtiger: „Katja arbeitet sehr viel und viel selbst. Sie ist immer für uns greifbar. Es ist spannend zu sehen, wie sie als neue MdB ihre Position erkämpfen muss.“ Dann erinnert sie ihre Chefin an die anstehende namentliche Abstimmung. Mast ist spät dran. Ihre Fitness ist gefragt. Sommersonne. Bei Rot über die Wilhelmstraße. Durch das Atrium des Jakob-Kaiser-Hauses. Die Wangen nehmen die Parteifarbe an. Mit der Frage der stellvertretenden Bundestagspräsidentin Gerda Hasselfeldt, „hat einer der Abgeordneten noch nicht seine Stimme abgegeben?“, fällt Masts Stimmkarte in die Urne. „Das war knapp.“


Katja Mast im Büro (C) jpp 2006

Büroarbeit inbegriffen: Bürgerbriefe, die einen scheinbaren Atomunfall anprangern; Interviewanfragen; Bitten von Lobbyisten, gewisse Entscheidungen im Auge zu behalten.

Das Jahr Forschungsarbeit in Madagaskar war das anders: „‚Mura, mura‘, langsam, langsam: Das Lebensmotto der Madagassen. Obwohl es das zehnt ärmste Land ist, lachen die Menschen dort trotzdem.“ Aber Madagaskar ist Hobby. „Menschlich bin ich in Pforzheim und dem Enzkreis angekommen. Vom berüchtigten Bruddler habe ich nichts mitbekommen.“

Abschluss des Tages: Eine Diskussionsrunde der Bertelsmann-Stiftung. „Arbeit statt Abstellgleis – mehr Beschäftigungschancen für Ältere.“ Mit dabei auch die Konkurrenz. Die Abgeordnete der Grünen kritisiert die Pläne der Großen Koalition als erwiesen misserfolgversprechend. Mast krallt sich in ihre Armlehnen, grummelt leise in sich hinein: „Sie verdreht die Zahlen. Es sind 18 Monate!“ Parteigenossin und geladene Diskussionsteilnehmerin Gabriele Lösekrug-Möller kontert souverän, zerlegt sachlich kühl die Argumente der grünen. „Und, wie war ich?“ wird Mast später leise von Lösekrug-Möller fragt. „Super!“ Es ist 21 Uhr 30.
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Ein Tag im Leben eines Mitglieds im Bundestags

Politisches bewegen - auch mit Bier

In der Haushaltswoche ergeben sich für den Bundestagsabgeordneten aus Pforzheim kaum Pausen

(24.06.2006) Er ringt nach Worten. Der Pelikan-Füller, grün mit silberner Kappe, schlicht wie ihn Schüler benutzen, rotiert in seinen Händen. Weit in seinen Stuhl zurückgelehnt, schaut er angestrengt an die Decke, als ob dort die Antwort auf die Frage hängen würde: Was heißt „Werft“ auf Französisch? Multilaterale Beziehungen, die Zypern-Frage, der Nizza-Vertrag, priviligierte Partnerschaft und die Grenzen Europas - an sich schon kompliziert. Aber Gunther Krichbaum fasst seine Einschätzungen dazu in einer fremden Sprache. Morgens um 7 Uhr 45. Nach vier Stunden Schlaf.

Es ist sein Start in einen weiteren Tag politischen Termineabreitens. Der erste gleich um dreiviertel 9: namentliche Abstimmung. Durch alle Abgeordnetenhäuser und den Reichstag heult eine Sirene. Sie erinnert markerschütternd daran: Die Abstimmung versäumen kostet 90 Euro. Von überall, vorbei an rot und weiß blinkenden Lämpchen, kommen die Abgeordneten angelaufen. Krichbaum ist weniger hektisch. „Der Französischkurs ist mir wichtig, nicht nur um die Sprache aufzufrischen, sondern auch, weil die Lehrerin als Französin mir einen Einblick in die Mentalität ihres Landes geben kann – etwa bei den Pariser Unruhen.“


C:j°p°p2006

Kurzes Plaudern mit den Parteikollegen: MdB Gunther Krichbaum ist als in die CDU-Fraktion voll integriert.

Das Interesse, Länder von innen heraus kennen zu lernen, steht im Dienst seiner Ausschussarbeit: Als stellvertretender europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion und im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union muss sich der 42-jährige über die Geschehnisse in anderen Staaten umfassend informieren. Als Berichterstatter für Rumänien und die Ukraine bereist er diese Länder mehrmals. Im Juli steht Moldau auf dem Plan. Fahrten vor Ort im Wagen des Botschafters. Keine Eskorte, keine Sonderrechte. Angst vor Überfällen? „Nö, eigentlich nicht.“ Personenschutz: „So ein Käse.“ Krichbaum fühlt sich sicher. „Passiert mir was, können Sie schreiben: Er hatte sich geirrt.“

Doch trotz der Affinität zum europäischen Gedanken: „Ich bin zuerst Deutscher und deutscher Abgeordneter. Europa muss sich erst auf das besinnen, was es kann,“ sagt Krichbaum und verschwindet in den mehr als 600 Abgeordneten, die sich durch die Glastüren in den Plenarsaal zwängen.


C:j°p°p2006Die Flucht vor der Hitze in die Arbeit: Dass im Büro das Sakko am Hacken hängen bleiben kann, tröstet über rund 90 Schriftsachen am Tag hinweg.



Nach einer guten Stunde verlässt Krichbaum die Debatte zum Haushalt für Arbeit und Soziales. Es geht zu seinem Büro im Paul-Löbe-Haus, vorbei an zig Besuchergruppen in kurzen Hosen und auf Badelatschen - beneidenswert in Parlamentsgebäuden ohne Klimaanlage, aber mit großen Glasfronten und Sommersonne.
Im abgedunkelten Büro wartet ein Stapel Briefe und Drucksachen so hoch wie drei Telefonbücher, rund 90 Posteingänge täglich. Haben sich er und seine zwei Mitarbeiter durchgearbeitet, sind Bürgerbitte oder Lobby-Hinweis noch nicht erledigt. Ausbau der A8 oder Westtangente etwa begleiten ihn seit seinem Bundestageinzug 2002. Sturheiten wie die der Bahn, keinen Waggon auf der Strecke Karlsruhe-Pforzheim anzuhängen, so wie von Wahlkreiskollegin Katja Mast und ihm gefordert, würden manchen die Nerven kosten. „Mich tragen persönliche Visionen wie mein innerliches Leitbild, meine Anliegen in die Politik zu bringen, Dinge zu verändern. Die ausgleichende Generationengerechtigkeit etwa: Eine Staatsverschuldung von 1,5 Billionen Euro und der demografische Wandel muss von der Jugend, von den derzeitigen Nichtwählern getragen werden. Und: Das Mehr an Lebensjahren kann kein Mehr an Rentenjahren bedeuten!“ erklärt Krichbaum, immer das Parlamentsfernsehen im Auge: Beendet Müntefering seine Rede, geht es zur nächsten Abstimmung.


C:j°p°p2006

Wahlkreisarbeit in der Hauptstadt: Gunther Krichbaum beschreibt Schülerinnen der Johanna-Wittum-Schule seine Arbeit, die in Sitzungswochen nicht vor null Uhr endet.

Danach stellt er sich eine Stunde den Fragen von 25 angehenden Erzieherinnen der Johanna-Wittum-Schule, die auf Bildungsfahrt in Berlin sind. Eine Stunde schildert Krichbaum seine politische Arbeit mit dem Herzstück Wahlkreisarbeit in Pforzheim und Enzkreis; er sei Lobbyist der Region; er beklagt sich über den Ausbau der A8; mit Problemen soll sich jeder an ihn wenden. „Er ist cool, locker, interessant,“ urteilen die Schülerinnen. „Man erkennt seine Lebensfreude.“
Nach dem Mittagessen mit einem ehemaligen Kollegen, der ihn mit neuesten Internas aus der Wirtschaft füttert, zieht Krichbaum weiter in einen Vortrag über die „aktuelle wirtschaftliche Situation in der Ukraine“. „Weit weg“ mag der erste Gedanke sein. Wenn der Vortrag aber schildert, dass die Ukraine 14 Atomkraftwerke bauen will, ist der Staat am Schwarzen Meer nah dran am Wahlkreis 280 im Jahr 20 nach Tschernobyl.


C:j°p°p2006

Ausstellungsbesuch mit Bundestagspräsident: Norbert Lammert und Gunther Krichbaum besichtigen Fotos von Bundestagspraktikanten Siegfried Muresan.


Krichbaum kann geht vor Schluss. Wahlkreisnachbar Hans-Joachim Fuchtel und Prof. Dr. Norbert Höptner von der Wirtschaftsförderung Nordschwarzwald wollen mit ihm besprechen, wie sich die Region auf der Stallwächterparty 2007, dem in Berlin hoch angesehenen Event der Landesvertretung, am medienwirksamten präsentiert kann. Brainstorming: Kunst und Wirtschaft des Nordschwarzwaldes? Tradition und Innovation? Schmuck und Wellness? Wer soll es zahlen? 45 Minuten Planen waren angesetzt. Man bleibt strikt. „Unproblematisch und unbürokratisch,“ ruft Fuchtel auf die Frage, welche Attribute zu Krichbaum passen, und schon ist er zehn Meter weiter.

Nächster Termin: die Eröffnung einer kleinen Fotogalerie vor dem Bundeskanzleramt. Bundestagspräsident Norbert Lammert freut sich über die Fotoarbeiten ausländischer Praktikanten des Bundestags. Mit dabei auch Yryna Filyutych aus der Ukraine und der Rumäne Siegfried Muresan, dank Stipendium Praktikanten im Büro Krichbaum. „Letzte Woche nahm er uns in den Wahlkreis mit. Die Menschen dort sind toll. Er selbst auch, weil er uns zwar viel Freiheit gewährt, dann aber auch Verantwortung gegenfordert.“ Ob mal Unmutsbekundung aus seinem Büro drangen, als er über der Post saß? „Nein! Nur im Pforzheimer Straßenverkehr!“

Der, über den geredet wird, steht abseits des Empfangs, das Handy am Ohr: die Planung für den Folgetag. Die Abstimmung von heute Abend, 22 Uhr, wurde auf morgen früh, 8 Uhr, verlegt. Das Essen mit dem rumänischen Botschafter: jetzt in Gefahr. Krichbaum könnte immer Termine streichen. „Ich bin so direkt niemandem Rechenschaft schuldig. Aber ich möchte viel wahrnehmen, weil es Spaß macht.“ Das hatte Matthias Platzeck auch mal gesagt. Keine Angst vorm Knall? „Ja, diese Gefahr besteht.“ Bis 19 Uhr bleibt Krichbaum im Büro. Danach geht es zum Empfang der Parlamentarischen Gesellschaft. Klingt nach Vergnügen. „Aber tatsächlich wird man nun bei einem Bier versuchen, Politisches zu bewegen.“"


Miss Pforzheim kommt aus Neustadt an der Weinstraße

Miss-Wahl-Hopping zu fünft

(01.11.2004) „Die hat ja einen Entenpopo“, „Hübscher Kugelbauch“ oder „Carramba!“. Das waren die intellektuelleren Beifallsbekundungen der rund 350 Gäste zur Wahl der „Miss Pforzheim 2004“. Ansonsten hörte man am Sonntagabend in der Diskothek „Casablanca“ auf der Wilferdinger Höhe nur pubertäres Grölen und Pfeifen, als 15 junge Kandidatinnen zunächst in Abendgarderobe, dann in einem schwarzen Badeanzug über den roten Teppich des Laufstegs schwebten, stolzierten oder stolperten. Wenn eine der zwischen 16- und 25-jährigen nicht ganz die Modellmaße 90-60-90 traf oder der Gang über den Catwalk nicht ganz dem einer geschmeidigen Katze glich, wurde sie schlichtweg ausgelacht.

Leena Winklbauer (21) lässt sich davon nicht abschrecken: „Ich finde es toll, auf der Bühne zu stehen, so im Rampenlicht und so. Es ist kein Fleischbeschau, aber der Auftritt in Bademode bereitet mir schon immer wieder Unbehagen.“ Immer wieder? „Ja, ich habe bereits an vier Misswahlen teilgenommen. Ich bin Vize-Miss Sindelfingen und dritte in Mainz.“ Es sei ein ganzer Tross, der sich telefonisch auf dem Laufenden hält, wo die nächste Misswahl stattfindet. Miss-Wahl-Hopping. „Dann verabreden wir uns auf der Misswahl. Heute sind wir zu fünft.“ Leena kommt aus Neustadt a. W., andere aus Filderstadt oder Ludwigshafen.

Aus Pforzheim sind wenige der Teilnehmerinnen. Nadine Schlittenhardt (19) etwa, wie man auch gleich am Beifall merkt, als sie die Tanzfläche betritt. In einem schwarzen Kleid, das seinen Rocksaum gerade so unterhalb des verlängerten Rückens findet, spaziert die Lokalmatadorin Richtung Jury. „Ich bin überrascht, dass ich so viele Fans habe,“ erklärt sie der Moderatorin. „Interviewrunde“ heißt das, wenn die Wettbewerberinnen Fragen zu ihrem Beruf und ihren Hobbys gestellt bekommen. „Tanzen“ und „Shoppen“ garantiert, „Lesen“ und „Zaubern“ wirken überraschend. Reden die Damen zu lange, zieht DJ Harry die Musik hoch.

Aus Niefern geht Sibel Peck ins Rennen. „Ich habe letztes Jahr zugeschaut und das hat mir gefallen. Ich will viel Erfahrung sammeln.“ In Latein- und Standard-Tanz wurde sie baden-württembergische Meisterin. So kennt sie das Spiel mit dem Publikum und weiß, unnahbar, aber nicht arrogant darf sie dem Publikum entgegentreten. Scham empfinde sie nicht: „Wenn ich im Badeanzug rauskomme, ist das wichtigste ja bedeckt.“ Trotzdem grölt das Publikum vor dem Laufsteg wie ein Rudel Wölfe hinter Gittern. „Die sind brav. Die baggern mich schon nicht an“. Tatsächlich haben es junge Kavaliere schwer, eine der Miss-Wahl-Kandidatinnen anzuhimmeln. Deren Freunde haben ein wachsames Auge, wenn es um die schwarz-rot-goldene Miss-Pforzheim-Scherpe geht. Leenas Freund Thorsten Schöner bleibt cool, wenn seine Freundin vor fremden Männern Haut zeigt: „Ich weiß, dass sie mir treu bleibt.“ Sibels Mutter Lilli steht auch hinter ihrer Tochter: „Ich habe das auch gemacht, als ich 18 war, wurde dritte in Mannheim. Das war 1979. Groß verändert hat sich nichts. Noch immer muss man die Nummerntafel halten und über den Laufsteg stolzieren. Manche sehen das herablassend, aber es ist eine Spaßveranstaltung.“

Gewonnen hat schließlich Leena. Damit kommt die „Miss Pforzheim“ aus der Pfalz, qualifiziert sich zur „Miss Rheinland-Pfalz“-Wahl und darf ein Wochenende lang kostenlos einen Kleinwagen fahren.


Das Interview:

Talkmaster Wieland Backes spricht im Interview über sein Erfolgsrezept, Nachmittags-Talkshows und die Anfänge vor 16 Jahren

Es gibt wieder Sehnsucht nach Niveau. Vorallem bei der Jugend

(21.02.2003) 600 Besucher kamen am Mittwoch Abend ins CongressCentrum, um von Wieland Backes "Geschichten aus dem Nachtcafé" zu hören (siehe obenstehenden Bericht). Vor der Lesung erzählte der Talkmaster unserem Mitarbeiter Juri Sonnenholzner von der Sehnsucht nach Niveau, seiner Promotion über "Planung und Lebensbedingungen in Ballungsräumen" und dem Erbe Alfred Bioleks.


Kurier: 16 Jahre Sendung, über 250 Ausgaben, steigende Zuschauerzahlen, nur ein entsprungener Gast. Was ist das Erfolgsrezept?


Backes: Man darf nicht nachlassen. Immer muss eine engagierte Redaktion und aufwendige Recherchen hinter der Sendung stehen.

Kurier: Wie sieht der Aufwand im Einzelnen aus?


Backes: Zunächst diskutieren wir in unserer achtköpfigen Basisredaktion über mögliche Themen. Die Geprächsrunden werden dabei theoretisch aufgestellt: In der Sendung dieser Woche geht es zum Beispiel um "Lachen produzieren". Zu unserer Runde muss also mindestens gehören: ein Teilnehmer aus der Karnevalsriege, eine Karnevalskritiker, ein Humor-Anarcho. Außerdem haben wir noch eine Lach-Therapeutin zu Gast. Nach dieser theoretischen Festlegung müssen die entsprechen den Gäste gefunden werden. Wenn die dann zusagen, finden Vorgespräche statt, um ihre Fernsehtauglichkeit einschätzen und ein wirklich gegensätzliche Runde konstituieren zu können. Oft gibt es noch ein zweites Vorgespräch mit mir. Dazu informiere ich mich über den Gast anhand von Dossiers. Dann schreibe ich noch eineinhalb Tage an den Moderationen. Morgens zwischen 7 und 10 Uhr kommen mir dazu die besten Ideen.


Kurier: Sie gehen nach der Aufzeichnung mit den Gästen oft noch Abendes sen. Ergaben sich Freundschaften mit Gästen?


Backes: Wenige, aber wenige gute. Bei vielen weiß ich, wenn ich einen Tipp brauche, kann ich da mal vorbeikommen oder anrufen. Prominente sind meist viel beschäftigt. Da verabredet man sich nicht gleich zum Sonntagsspaziergang.


Kurier: Gab es auch Feindschaften? In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Regisseur Dieter Wedel Ihr Studio wutent brandt verließ, nachdem er sie noch hart kitisiert hatte?


Backes: Nein. Es gibt sicherlich eine ganz kleine Zahl, nicht mal zehn, die, wenn sie meinen Namen hören, zu schimpfen beginnen oder sich in Grausen abwenden würden.


Kurier: Über 1 800 Gäste zählt ihre Gästeliste schon. Wen wünschen Sie sich denn noch?


Backes: Natürlich waren viele A-Promis noch nicht da. Mit Senta Berger sind viele vereinbarte Termine bisher gescheitert. Aber jetzt sieht es ganz gut aus. Schwierig ist es auch geworden, manchen Wunschkandidaten zu bekommen, weil ein Kampf der Talkshows entbrannt ist. Aber viele Gäste halten uns zu Gute, dass wir seriös arbeiten.


Kurier: Weniger seriös wirken die Kollegen der Privatsendern. Wenn sie nach mittags das Fernsehen anmachen: Was geht Ihnen da durch den Kopf?


Backes: Die Entwicklung bei den kommerziellen Anstalten war eine Entwicklung auf der nach unten offenen Richterskala, was das Niveau betrifft. Diese Entwicklung ist für mich natürlich ein Horror. Der Name "Talkshow" ist dadurch schwer in Verruf geraten. Aber es ist so, als wenn sie das Wort "Zeitschrift" auf der einen Seite mit dem "Spiegel", auf der an deren Seite mit den "Sankt-Pauli-Nachrichten" in einem Atemzug nennen würden. Für mich war diese Nachmittags-Talkshow-Welle - die glücklicherweise etwas abgeklungen ist - ein Abstieg in die tiefsten Niederungen des sen, was im Medium Fernsehen möglich ist. Wir haben uns tendenziell nie an solch einer Entwicklung beteiligt. Die Zuschauer haben es uns gedankt. Denn es gibt eine Sehnsucht nach Niveau, die durch Mangel an Niveau im Fernsehen größer geworden ist. Gerade heute spüren wir auch bei Jugendlichen wieder eine große Sehnsucht nach Inhalten, nach Sinn, nach Antworten auf die Frage, wie gehe ich mein eigenes Leben an, welche Ziele stecke ich mir.


Kurier: Ein Lebensmodell zeigten Sie auch mit einem älteren Ehepaar aus dem Enzkreis, dass sich ewige Liebe geschworen hatte. Können Sie sich an weitere Gäste aus Pforzheim erinnern?


Backes: Oh ja. Natürlich! René Weller. Oder Frau Frech-Becker. Dann hatten wir aus der Nähe von Pforzheim eine Skatweltmeisterin. Das Ehepaar, das lange verheiratet war und sich die ewige Treue geschworen hatte - das war eines unserer unzähligen Liebesthemen.


Kurier: Sind Ihnen Themen, die mit Liebe zu tun haben, nicht so recht? Ist da der Grad zum Niveauverlust zu schmal?


Backes: Nein. Bei uns ist die Komponente Sex in unserer Sendung zwar stark rückläufig. Vielleicht ist das altersbedingt. Aber unser Spektrum ist sehr groß. Beziehungsthemen wie "Liebe im Alltag" oder "Trennungen" sind unserere erfolgreichsten Themen. Sie haben mit Lebensabläufen und -entwürfen zu tun. Das betrifft automatisch eine große Zuschauerschaft. Jeder steht in Beziehungen. Der Zuschauer kann den Transfer machen zu seinem eigenen Leben, kann vergleichen. Das ist der Hauptmechanismus, den eine Sendung wie unsere eigentlich auslöst: Dass man hofft, für das eigene Leben etwas mitzunehmen, aus dem Vergleich mit anderer Biografien.


Kurier: Diese Lebenstipps gibt es jetzt auch in Buchform. Titel "Geschichten aus dem Nachtcafé.


Backes: Das Buch war für mich was neues. Ich habe mich lange gestreubt, ein Buch zu schreiben. Dann kam die 250. Sendung und dann entschied sich die Redaktion zu einem Buch. Ich wollte das nicht einem Ghostwriter überlassen. Das war dann ein Akt der Disziplin, neben dem Sendebetrieb ein Buch zu schreiben. Aber es war auch ein großes Vergnügen, mit Sprache zu arbeiten. Ich hoffe, das merkt man dem Buch an. Ich habe Episoden ausgwählt auf Grund Sendungslisten und meiner Erinnerung. Ich war zum Glück ja bei jeder Sendung dabei.


Kurier: Mit dem Aufwand, viele Seiten zu schreiben, waren Sie aber schon vertraut. Sie promovierten über "Planung und Lebensbedingungen in Ballunsräumen". Wie ging es dann ins Fernsehen?


Backes: Ich hatte immer zwei Leidenschaften: Von klein auf interessierte ich mich immer sehr für Naturwissenschaften. Dann wollte meine Familie aber auch, dass der Bub was solides studiert. Aber parallel dazu hatte sich schon in der Schulzeit eine Leidenschaft für Auftritte und für Filme ausgebildet. Schon als Schüler drehten wir mehrere Filme, Schulveranstaltunen moderierte ich als Schulsprecher - ohne daran zu denken, dass das eine ernsthafte Phacette meines Lebens werden könnte. Als ich dann promovieren wollte, fragte ich meinen Doktorvater, ob ich zur Promotion dazu einen Film produzieren könnte. Hätte er nein gesagt, wäre ich jetzt vielleicht nicht beim Fernsehen.


Kurier: Dort ging es dann in die "Abendschau", deren Leitung sie fünf Jahre inne hatten.


Backes: Vom Hospitanten bis zu Chef war ich mit der Abendschau verbunden. Parallel dazu entwickelte ich kleine Revuen, Studiosendungen mit Talkcharakter. Ich hatte dort Spielwiesen. Als die "Abendschau" einem natürlichen Ende entgegen ging, machte ich den Vorschlag für eine neue Abteilung "Journalistische Unterhaltung" für den schmalen Grad zwischen Information und Unterhaltung. Mit einer klitzekleinen Redaktion zogen wir in eine Mietwohung und bereiteteten das Nacht café vor oder "Auf der Couch", mit der wir eine Zeit lang in der ARD waren.


Kurier: Was Talkshows in der ARD betrifft: Warum wurden sie nicht Nachfolger von Alfred Biolek?


Backes: Guter Vorschlag, sehr guter Vorschlag! Aber Spaß beiseite: Das ist ja alles schon bestens geregelt. Sandra Maischberger schätze ich sehr. ARD-Herausforderungen brauchen immer eine besondere Vorbereitung. Im Augenblick möchte der SWR das eigene Dritte Programm sehr gut positionieren. Klar hat es für jeden Moderator einen Reiz, wenn man von der Kritik schon als "Bundesliga" gehandelt wird, dann in der Bundesliga wirklich mitzuspielen. Aber das ist ohne unruhig zu werden.


Kurier: Das Nachtcafé wird es also im Ersten nicht geben?


Backes:Kurzfristig glaube ich nicht."


In Pforzheim verschiedene Reaktionen auf New Yorker Anschläge / Ölpreis steigt bis zu zehn Pfennig

Die ferne Katastrophe und der heftige Schock vor Ort

Bestürzung und Sprachlosigkeit herrschen in jüdischer Gemeinde / Flugzeug mit Sparkassendirektor drehte um

(13.09.2001) „Ich schaute aus dem Fenster, zählte die Minuten, Turbulenzen erschreckten mich und alle Geräusche im Flugzeug kamen mir unheimlich laut vor." Sparkassendirektor Stephan Scholl saß in einer Maschine der Continental Airlines mit Flugziel New York, als der Kapitän über die Lautsprecher durchsagte, dass man sofort nach Frankfurt umkehre - mitten über dem Atlantik, zwischen Irland und Grönland. Es habe eine Reihe von Anschlägen in New York gegeben. „Die Passagiere blieben verhältnismäßig ruhig. Nur der Steward hatte so sehr gezittert, dass er die Schokoladensauce nicht aufs Eis bekam. Diese Minuten, bis wir wieder in Frankfurt landeten, werde ich den Rest meines Lebens nicht vergessen." Auf dem Programm des Treffens mit New Yorker Geschäftspartnern: zwei Essen im World Trade Center.

Die Katastrophe von New York bewegte auch in Pforzheim die Menschen. Die Straßen waren Dienstag gegen 17 Uhr wie leergefegt. In vielen Unternehmen wurden die Radios angestellt und Mitarbeiter versammelten sich vor Fernsehgeräten. Viele versuchten auch über das Internet, mehr zu erfahren, doch die Nachrichtenseiten waren dem Ansturm nicht gewachsen: „Dreimal soviel Internetnutzer als sonst wählten sich am Dienstag ins Netz ein. Vor allem Nachrichtenseiten von ARD, ZDF und RTL waren nur in mehreren Anläufen zu erreichen", fasst Webentwickler Michael Kiefer-Berkmann vom Pforzheimer Internet-Provider ePlan zusammen. Im World Trade Center waren zudem auch wichtige Knotenpunkte des World Wide Web untergebracht.

„Wir stellten alle Rundfunkgeräte an und gingen ins Internet. Die Telefone standen nicht mehr still," schildert Peter Wagner, Geschätsführer des Reisebüros Eberhardt jene schockierenden Minuten. „Viele unserer Mitarbeiter hatten Angst um Freunde und Bekannte. Wir kennen auch viele unserer New Yorker Reiseleiter persönlich." Das Reisebüro wurde auch gleichzeitig als Anlaufstelle von verunsicherten Anrufern genutzt, deren Familienangehörige sich zurzeit in den USA aufhielten. „Wir rekonstruierten dann deren Reiserouten. Doch vor allem bei Geschäftsreisenden erwies sich das als schwierig, da oft andere Inlandsflüge als geplant genommen werden."

Ebenso unsicher auch die Lage des international tätigen Unternehmens Witzenmann: „Die Konsequenzen, die diese Anschläge für uns haben werden, sind noch nicht absehbar: Amerikas Grenzen sind zu, zu den Frachtzentren gibt es kein Durchkommen", erklärt Geschäftsführer Dr. Gerhard Flock. Je länger dieser Zustand anhalten werde, desto mehr würde er zu einem wesentlichen Problem des Unternehmens werden. Zumindest ein Lichtblick: „Alle Mitarbeiter unserer Tochterunternehmen sind zur Zeit der Flugzeugentführung am Boden gewesen."

Bestürzung und Sprachlosigkeit herrschten bei der jüdischen Gemeinde. Vorsitzender Rahmin Suliman suchte vor allem den Sinn in der Anschlagsserie: „Kidnapping und Selbstmordattentate sind kein Mittel. Viel mehr ist auf dem politischen Weg zu erreichen." Die Freudenfeste in Palästina würden ihn nicht schockieren: „Es ist nichts Neues, dass sie nach den Bombenangriffen der Irakis oder Selbstmordanschlägen in Tel Aviv so reagieren." Die Polizeistreifen vor dem Gebäude seien verstärkt worden, doch vor Anschlägen habe Suliman keine Angst.

Entgegen den Befürchtungen, viele Bürger würden aus Angst vor einem Hochschnellen der Ölpreise Benzin hamstern, blieb es ruhig an den Tankstellen der Region. „Wir konnten sogar um einen Pfennig runtergehen", beruhigt Tankstellenpächter Markus Walter. Ebenso ruhig Thomas Nest, der am Dienstagabend den Ölhandel einstellen musste (der Kurier berichtete): „Es sieht wieder besser aus. Die Lieferfähigkeiten sind wieder hergestellt. London und Tokio ersetzen die Ölbörse im World Trade Center. Aber der Liter kostet acht bis zehn Pfennig mehr." Das werde sich bis spätestens morgen auch auf die Benzinpreise auswirken.

Bei vielen älteren Bürgern wurden Kriegserinnerungen wach. Doch auch die reinen TV-Bilder können ein Schockerlebnis verursachen: „Etwa, wenn sich Zuschauer in die Lage der Menschen am Katastrophenort versetzen. Die einen sehen die zwei Türme nur wie Bauklötze zusammenstürzen, die anderen durchleben die Lage der gekidnappten Passagiere", erklärt Diplom-Psychologin Andrea Steffen jene „posttraumatische Belastungssituation" vor dem heimatlichen Fernseher. Folge: Schlafstörungen und Konzentrationschwierigkeiten, „wichtig ist dann, dass die Familie zusammenrückt und über das Gesehene spricht.""


Drei Tage nach dem Inferno barg Feuerwehr die Überreste

Ruhe zu bewahren war das richtige

Nachbar rettete Familie mit elf Monate altem Kind aus dem 1. OG

(06.11.2000) "30 Jahre habe ich hier gewohnt. Mein ganzes Geld, das ich in der Bäckerei dort an der Ecke verdient habe, steckte ich in mein Haus. Nie habe ich Urlaub gemacht". Der Schock weicht jetzt der Wut über das Schicksal. Das Einzige, was Özgür Canlis Schmerz lindert: Niemand seiner Familie oder der Mieter des Hauses Hirsauerstraße 82 ist bei dem Brand in der Nacht auf Allerheiligen getötet worden. Aber es war knapp.

Als Canli den Brand im Haus bemerkte, wurde er gleichzeitig von zwei "Explosionen" aufgeschreckt. Er rief die Feuerwehr und wollte dann mit Frau und Kind an der Hand durch das Treppenhaus fliehen. "Doch das Feuer war vor der Tür". Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Feuer vom Brandherd im Erdgeschoss die hölzernen Treppen in die beiden höheren Stockwerke hochgefressen. Canli und die Bewohner ein Stock unter ihm bemerkten das zu spät. Der Rettungsweg nach unten war jetzt unbegehbar. Es blieb nur eines: In den straßenabgewandten Räumen ausharren, bis Rettung kommt.

Özgür Canli erzählt am Samstagmorgen von jenen fürchterlichen Minuten, während 22 Feuerwehrleute und Helfer des THW noch benutzbares Mobiliar und persönliches Hab und Gut aus dem rußgeschwärzten Hauseingang tragen. Als Einsatzübung deklariert, ist es vielmehr eine Hilfeleistung den Opfern gegenüber. Bis sie eine neue Unterkunft gefunden haben, wird alles Geborgene auf einem THW-Laster zwischengelagert. Canli und Familie wohnen in einer Pension, im Fall der Eltern und ihrem elf Monate alten Kind aus dem zweiten Stock fand sich ein neues Zuhause sehr schnell: am Dienstag ist die Wohnung, vermittelt durch das Sozialamt, bezugsfertig, so erzählen sie.

Schnell waren in jener Nacht auch die Rettungskräfte da. 15 Anrufe gingen gegen 0.31 Uhr bei der Feuerleitstelle ein, sieben Minuten später blizten die Blaulichter vor dem Haus aus den 1910-er Jahren. "Stichflammen kamen aus den Fenstern und gingen in den Himmel. Es war unheimlich heiß auf der Straße. Deshalb stellten wir uns auf die andere Straßenseite. Von dort sahen wir, wie sich das Feuer sehr schnell in die oberen Stockwerke bewegte", erzählt Seref Arikan, der bei dem Anblick der Szenerie um sein Nachbarhaus bangte. Trotz der gefährlichen Situation machte sich ein anderer Nachbar zeitgleich daran, eine Leiter an die Rückseite des Hauses zu stellen und die Bewohner des ersten Stocks - weiter reichte die Leiter nicht - zu befreien. Glück hatte auch die Frau im Erdgeschoss: "Ihre Schlafzimmertür hielt dem Feuer noch lange genug stand und sie blieb auf ihrem Bett sitzen, bis wir sie gerettet haben. Aber sie hatte nicht mehr viel Zeit", so Michael Knödler von der Berufsfeuerwehr.

Das Haus in der Hirsauerstraße gleicht baulich dem in der Kelterstraße, wo es Anfang 1999 zu einem Brand kam. Es war eine andere Brandursache, aber auch dort war der hölzerne Rettungsweg durch Feuer versperrt. Diesmal lief alles glimpflicher ab, denn "im Unterschied zur Kelterstraße hatten die Opfer hier Ruhe aufgebracht, auf ihre Rettung zu warten".

Spenden für Brandopfer

(jaso) Nachbar des Brandhauses in der Hirsauerstraße und Stadtrat Jörg Müller (CDU) organisierte eine Spendenaktion in Zusammenarbeit mit dem Sozialamt: Geldspenden können auf das "Menschen in Not"-Konto 88 88 77 bei der Sparkasse Pforzheim (BLZ 666 500 85, Verwendungszweck "Brandopfer") überwiesen werden; Kleiderspenden, vor allem für das Kleinkind (Größe 80), nimmt der Dreifaltigkeits-Kindergarten in der Huchenfelder Straße entgegen; weitere Sachspenden sollten aus organisatorischen Gründen mit dem Sozialamt (Tel. 39-2967, Herr Saur) abgesprochen werden. "
Die Single-Gruppe der Michaelsgemeinde wandert alle zwei Wochen

"Kein Schulbus ist so stressig wie diese Singlegruppe"

Stammtisch, Theater, Kartenspiele, Kegeln stehen auch auf dem Programm

(27.03.2000) Große Freude herrscht unter den Teilnehmern des Singletreffs der Michaelsgemeinde, wenn man sich sonntags alle zwei Wochen wohlbehalten wieder sieht. Gestern ging die gemächliche Wanderung vom Hermann-See bergauf und bergab Richtung Sonnenberg, wo man in die gleichnamige Gaststätte eingekehrte.

Wichtig ist immer die Kommunikation. Und schwätze tut man auf gut Schwäbisch: Kochrezepte, der letzte Urlaub, das Geschäft, Ärger mit der Familie, Was-macht-wer-mit-wem lauten die Titel der leichten Konversationen. Nur über eines spricht man nicht: die Scheidung und wie es dazu kam. "Manchmal kommen aber schon welche, die Anschluss suchen, um sich ihre Probleme von der Seele zu reden," erzählen Doris und Lore. Reservierter reagiert darauf Karin, die 57-jährige Geschäftsfrau: "Dene hört man dann halt zu und fertig. Und wenn man die Nase voll hat, läuft man halt 20 Meter vor der Gruppe."

Vielmehr versucht die Gruppe durch gemeinsames Programm den Trennungsschmerz zu überwinden. So wandert man eben irgendwo hin, weil der Weg das Ziel ist. "Es ist wichtig, dass man weiß, dass man jemanden hat, dass man immer kommen kann," "allein würde ich nicht durch den Wald laufen," "die eigene Notlage zwingt einen, etwas zu tun, Abwechslung und Auslauf zu haben", "immer nur für seine Familie da zu sein, bringt auch nichts," lautet die Collage der Gründe, die die drei Damen immer nur "von den Sonntagen zu Sonntagen leben" läßt, an denen sich die Gruppe trifft. Derweil bedeutete früher gerade der Sonntag einen Tiefpunkt in der Woche: Man konnte nicht raus, zur Arbeit auch nicht, und die verschlossenen Ladentempel erlaubten nicht, beim Spazieren durch die Konsumtempel die Seele baumeln zu lassen. "Mit Familien kann man auch nicht weg. Da fühlt man sich immer nur wie das fünfte Rad am Wagen."

Mit der Singlegruppe ist das anders. Es haben sich Gruppen untereinander gebildet, mit denen man den Donnerstagsstammtisch, Theaterbesuche, Kartenspiele, Kegeln oder den Besuch eines Englischkurses organisiert. Jetzt läuft man entlang der Holzwüsten, die Orkan Lothar hinterlassen hat. "Das sieht schon schlimm aus".

Über die Gründe, warum auch so viele Ehen in die Brüche gehen, hat man sich schon Gedanken gemacht: "Die Frauen entwickeln sich halt weiter. Oder er kommt mit ihrer Mid-Life-Crisis nicht zurecht." "Die Frauen lassen sich vielleicht auch nicht mehr alles gefallen," denkt Lore, 65, Rentnerin. Dass jemand herkommt, um hier wieder einen Deckel für den Topf finden - das streiten die drei Damen vehement ab. Dafür treffe man sich nicht: "Wir sind kein Heiratsmarkt." "Es kommen sowieso nur sehr wenige Herren. Männern fehlt wahrscheinlich der Mumm." "Und Männer auf Brautschau, die hier nix fanden, waren das nächste Mal wieder weg." Trotzdem erinnert man sich wage, dass zwei Paare sich gefunden hätten.

Bei den Touren durch das Stadtgebiet immer mit dabei: SPD-Stadträtin Ellen Eberle. Aber "Stadträtin" darf sie hier niemand nennen. Eberle betreut den Singletreff, sucht die Wanderziele aus, organisiert den Kauf der Bustickets, sucht nach Rabattmöglichkeiten. Ihr Ziel: Man muss vermeiden, dass den Leuten daheim die Decke auf den Kopf fällt." Man mache sich immer Gedanken über die, die fehlen. So kennt sie die Vornamen aller, die sich ihrer Gruppenführung anvertrauen. "Du läufst hinten und passt auf, dass wir niemanden verlieren," gibt Eberle höflich Anweisungen. "Jetzt geht es linksrum." Im Gänsemarsch geht es dann über die Straßen. Es wird gequasselt, getratscht, gelacht. Wenn die Gruppe zum Startpunkt der Wanderung fahre, erzählt Ellen Eberle, stünde der Busfahrer immer unter einer besonderen Bewährungsprobe: "Kein Schulbus ist so stressig wie diese Singelgruppe"

In zwei Wochen trifft sich der Singletreff ab ,45 und besser' wieder. Um 13 Uhr gehts los. V


In Pforzheim wird mehr als jeder dritte Bund für's Leben geschieden

"Die Frauen sind nicht mehr so dumm wie früher"

Resultat der zerbrochenen Ehen: Schulden und 250 alleinerzogene Kinder im Jahr

(1999) Ab und zu holt sie eine Pappschachtel aus der Kommode, legt den Deckel beiseite und holt ihre Schätze vergangener Zeiten hervor. Bilder aus zwei Jahrzehnten, auf denen ihr Ehemann abgelichtet ist. "Er war schon ein toller Mann," kommt sie jedesmal wieder zum Schluss. Knapp 20 Jahre war sie mit ihrer Liebe verheiratet. "Für seinen Abgang suchte er sich das Fest der Liebe aus." Am zweiten Weihnachtsfeiertag verabschiedete er sich - wie immer, mit einem Kuss auf die Wangen. Zu einer Geschäftsreise müsste er aufbrechen, hatte er gesagt. Dann kam er nie wieder in das gemeinsame Haus. "Wir haben uns geliebt." Sie schaut auf das Schwarzweißfoto, macht eine kurze Pause, "dachte ich eigentlich." Das erste Wiedersehen gab es im Sommer darauf - vor dem Scheidungsrichter.

Stefanie B. ist eine von rund 300 geschiedenen Frauen in Pforzheim. Dabei stimmt zumindest für die Stadt der Eheringe die allgemein akzeptierte Statistik, jede dritte Ehe würde geschieden, nicht mehr: 736 Eheschließungen im Jahr 1998 stehen 294 Scheidungen gegenüber. Also 40 Prozent, die sich über das Gelob hinwegsetzen, in guten wie in schlechten Zeiten zueinander zu stehen. Tendenz steigend. Dabei erwischt es die Partnerschaft tatsächlich meist im verflixten siebten Jahr. Aber auch Langzeitehen, die die Porzellan- oder Perlen-Hochzeit überstanden haben, geben sich doch noch das zweite Ja-Wort - jenes, das der Scheidung zustimmt.

Die Gründe dafür sieht Familienrichter Hans Ludin in der Reform des Scheidungsgesetzes von 1977: "Die Schranke, die bisher Paare von der Scheidung abhielt, ist damals herabgesetzt worden. Die Schuldfrage wird nicht mehr gestellt, so kann eine Scheidung nach einem Jahr des Getrenntlebens ohne Hürden vollzogen werden." Soziologen nennen veränderte soziale Verhältnisse, eine ganz andere Weltanschauung als Grund steigender Scheidungszahlen. Denn die Ehefrau an Heim und Herd kann sich nicht wie der arbeitsame Mann fortbilden. Oftmals fehlt es ihr an den sozialen Kontakten. Es entsteht ein zu großer Unterschied in den Persönlichkeiten. Man lebt sich auseinander. Auch die wirtschaftliche Situation kann einen Keil in den Ehebund treiben: Familien-Streß, weil der einstige Bräutigam unter beruflichem Konkurrenzdruck steht, oder schließlich Arbeitslosigkeit.

"Die Frauen sind nicht mehr so dumm wie früher. Sie müssen sich nicht mehr alles gefallen lassen," meint hingegen Stefanie B. Tatsächlich werden mehr als doppelt soviele Scheidungen von der Frau beantragt, als vom Mann. Was dann folgt, ist meist ein jahrelanger, nervenaufreibender Krieg auf Gedeih und Verderb. "Bei mir dauert es jetzt schon sieben Jahre. Streit um meinen Unterhalt, um zurückliegende Kosten, um seine Falschaussagen. Und das in mehreren Instanzen." Auch Hans Ludin bestätigt, dass eher die Männer mit harten Bandagen in die Gerichts-Schlachten ziehen: "Nach einer ,Hausfrauenehe', zudem noch mit Kind, stellt sich in Sachen Unterhalt für die Beteiligten oft die Existenzfrage. Das führt regelrecht zu Krieg." Auf die Frage, mit welchen Tricks die Herren arbeiten, antwortet Ludin: "Sie bringen alles. Besonders seit 1998, seitdem im Antrag um das Sorgerecht vorgetragen werden muss, warum das Gericht das Kind einem der Elternteile zuerkennen solle."

Bei Stefanie B. kam hinzu: Auseinandersetzungen mit Rechstanwälten, die Verhandlungen ohne ein Wort zu sagen beiwohnten und Termine versäumten, dann aber Rechnungen stellten. In der Tat: Die Juristen schlagen aus Scheidungen den Profit. Weit über 30 000 Mark Gerichts- und Anwaltskosten für eine Scheidung sind keine Seltenheit.

Weit mehr als der Geldverlust schmerzt Stefanie B. der Verlust des Vaters für ihre Tochter. Für sie interressiert er sich nicht mehr. Er sieht sie als Teil des Komplotts gegen ihn. "Sie hat mit zwölf den Fortgang ihres Papas zwar schon gut verkraftet - irgendwie war er ja sowieso immer nur im Geschäft. Aber er hat ihr wohl schon gefehlt. Mal von jemand anderem einen Rat zu hören als immer nur von mir. Und dann war ich ja auch die ganzen Jahre so nervös und aufgewühlt." Den ganzen Krach habe man sofort den Noten ihrer Tochter angesehen. Sie sei regelrecht abgesackt.

"Scheidungen sind mit Gründe, die dazu beitragen, dass die Schüler insgesamt immer unkonzentrierter werden" sagen die Lehrer unisono. Immerhin die Hälfte aller zerbrochenen Ehen hinterläßt mindestens ein minderjähriges Kind. Pforzheim zählt so 250 Töchter und Söhne geschiedener Eltern - und jedes Jahr werden es mehr.


Letzte Aktualisierung: 28.3.2024

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